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SIGUR RÓS: Odins Raven Magic

Hugin und Munin alias Gedanke und Erinnerung sind die beiden Raben, die auf Odins Schulter sitzen und ihm alle Neuigkeiten einflüstern, die sie in den vergangenen Tagen so gehört haben. Eines Tages erhalten Sie Kunde von einem großen Festmahl der Götter und dass in der Folge die Erde von Norden nach Süden erstarrt. Was nach Fantasy klingt, ist ein streitbarer Text der Edda. Streitbar, da seine Echtheit lange bezweifelt wurde. Und streitbar ist auch das Album „Odins Raven Magic“, das SIGUR RÓS nun nach gefühlt ewiger Abstinenz veröffentlichen.

„Kveikur“, das letzte Album von SIGUR RÓS feierte heuer seinen siebten Geburtstag, seitdem gibt es eher Unschönes von den Isländern zu berichten, zum Beispiel die Trennung von Schlagzeuger Orri Páll Dýrason oder die Geschichte mit der Steuerhinterziehung. Im besten Fall machten sie noch mit einer Dauerambientaktion von sich hören, aber selbst das war weit von dem entfernt, was SIGUR RÓS bis dahin auszeichnete. Selbst das neue Soloalbum von Jonsi fühlt sich nach Krise an, auch trotz vereinzelt guter Stücke. „Odins Raven Magic“ ist nun ein Zeitsprung in eine vergangene, bessere Welt. Denn es ist kein neues Studioalbum von SIGUR RÓS, sondern ein Livealbum, und zwar von einer längst vergangenen Performance: „Odins Raven Magic“ wurde ganze dreimal aufgeführt, in London, in Paris und in Reykjavik. Im Jahr 2002.

SIGUR RÓS suchen in ihren Archiven nach der guten, alten Zeit und finden ein Werk, passend für diese Zeit

Es wirkt schon kalkuliert, dass dieses Livealbum erst jetzt veröffentlicht wird. Immerhin dürsten wir alle doch nach neuer Musik von der Band, die klingt wie der Wind auf Island. Somit ist „Odins Raven Magic“ auf der einen Seite so etwas wie ein Lebenszeichen für die Fans und spült hoffentlich etwas Geld in die Kassen der gebeutelten Künstler. Andererseits ist „Odins Raven Magic“ ein mahnendes Werk, ein Unheilsbringer sozusagen – das passt nicht so richtig zu SIGUR RÓS, oder? – und irgendwie erleben wir in diesem Jahr eine Zeitenwende. Ausgebremst durch eine Pandemie, die wir der menschlichen Gier nach Fleisch zu verdanken haben, zur Zeit des Klimawandels, in einer Parallelgesellschaft, in der die Oberschicht (wir) der Unterschicht (Paketboten) frontal gegenübersteht und in der vom Wohlstand verblendete Menschen ihre Kinder auf Bühnen zerren, wo sie suggerieren sollen, dass sie aktuell genauso leiden als die Juden im dritten Reich.

Dass Hugin und Munin einigermaßen belustigt, aber auch besorgt, über unsere Welt voller Schildbürger kreisen, passt wirklich gut in dieses bizarre Jahr. 2002 hingegen war alles noch leichter, obwohl kurz zuvor die Twin Towers gefallen waren, was den Startschuss für ein neues Zeitalter der Angst setzte. SIGUR RÓS hatten damals gerade „( )“ veröffentlicht, dessen Zauber bis heute ungebrochen ist und in dessen Schatten „Odins Raven Magic“ lange stand, und zu so etwas wie einem Mythos wurde. Nun agieren SIGUR RÓS auf „Odins Raven Magic“ eher als Statisten, denn als Hauptdarsteller, aber ihr Name zieht natürlich mehr als der von Komponist Hilmar Örn Hilmarsson, der kreativ wohl eher das Ruder in der Hand hatte. Zwar ist immer wieder die ätherische, zauberhafte Seite von SIGUR RÓS zu hören, vor allem Jonsis Falsettstimme, aber andere haben charakteristischere Auftritte in dieser Stunde wild zusammengewürfelter Musik.

“Odins Raven Magic” ist nur zum Teil ein SIGUR RÓS-Album. Die großen Auftritte haben Andere

Wer auf ein vergessenes Album von SIGUR RÓS im Stil von „Ágætis byrjun“ hofft, könnte desillusioniert und herb enttäuscht werden. Doch wer sich von der PR-Abteilung der Band nicht in die Irre führen lässt, wird von „Odins Raven Magic“ nicht zwangsläufig enttäuscht. Nüchtern betrachtet gibt es nämlich einiges auf der Habenseite: Der orchestrale Teil und der Chor sind bisweilen wirklich groß. Hilmar Örn Hilmarsson hat große Teile des Materials geschrieben, aber wer von SIGUR RÓS’ damaligem Keyboarder Kjartan Sveinsson die Oper „Der Klang der Auferstehung des Göttlichen“ kennt, wird eine Verwandtschaft zu „Odins Raven Magic“ erkennen. Auch der Kantor Steindór Andersen fügt dem Werk eine wertvolle Facette zu und schlägt den Bogen zwischen nordischer gesungener Erzählkunst und zeitgenössischer klassischer Hybridmusik. Der heimliche Star auf dem Album ist aber die Marimba des Künstlers Páll Guðmundsson (bekannt aus dem Konzertfilm “Heima”) mit einem außergewöhnlich schönen Klang.

Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Album etwas zerfahren wirkt. Da gibt es die orchestrale Seite von erdrückender Schwere, wie man es von SIGUR RÓS eben nicht gewöhnt ist. Dann ist da ein fast typischer SIGUR RÓS-Track wie „Dvergmál“, der nicht zufällig als erste Single ausgewählt wurde und das isländische Zauberweltenfeeling ausstrahlt. Aber auch ohne SIGUR RÓS an der Front gibt es Gänsehautmaterial: „Stendur æva“ hat nach Marimbaeinsatz und Rezitation durch Steindór Andersen einen magischen Chor in der Mitte stehen, der uns mit den beiden Raben mitfliegen lässt. Jonsis Gesang darüber, die anschwellenden Streicher, das Duett mit Andersen, das lässt an „Ára bátur“ denken. Dem gegenüber stehen aber auch Klassikpassagen, wie in „Áss hinn hvíti“, die vielleicht in der Konzerthalle für Gänsehaut sorgten, aber auf dem Mitschnitt recht blass und beliebig wirken.

“Odins Raven Magic” wird immer dunkler und bedrohlicher – untypisch für SIGUR RÓS, aber trotzdem gut.

Zum Ende hin wird „Odins Raven Magic“ immer dunkler und bedrohlicher, Klimax inklusive und wirkt nicht zuletzt deshalb wie der Soundtrack zu einem epischen Fantasyfilm. Die letzten drei Stücke sind ausnahmslos spannend und von dichter Atmosphäre, sodass wir ganz vergessen, dass uns dies als SIGUR RÓS-Material verkauft werden soll. „Hvert stefnir“ brodelt geradezu, das schwebende „Spár eða spakmál“ als Vokaltriptych, das angeführt wird vom Soprangesang von Maria Huld Markan Sigfúsdóttir, mündet in das große, laute Finale, das locker die Kurve kriegt, bevor es zu einem unerträglichen Rock-Meets-Classic-Kitsch verkommt. Viel mehr fühlt sich das Ende von “Odins Raven Magic” wie eine alternative Version von „Popplagið“ an und schließt das Album recht versöhnlich ab.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Odins Raven Magic“ ein wertvolles Stück Musik ist, auch wenn es insgesamt unfertig wirkt. Es besitzt weder die kompositorische Stärke der zeitgenössischen Klassik anno 2020 (siehe die aktuellen Großtaten von Max Richter und Ólafur Arnalds) noch das, was SIGUR RÓS auf emotionaler Ebene auszeichnet. Vielleicht hilft da aber der Blick zurück ins Jahr 2002, denn heute, achtzehn Jahre später, dürfen wir bezweifeln, dass der übrig gebliebende Rest von SIGUR RÓS, nämlich Jón Þór Birgisson und Georg Holm nochmal die Kurve kriegen und wieder zu dem werden, was sie einmal waren. Somit liegen in diesem Fall Nostalgie, Sentimentalität und Traurigkeit recht nah beisammen. Es ist also recht passend, dass „Odins Raven Magic“ ausgerechnet in diesem Jahr erscheint, da dieses Gefühlstrio viele von uns dominiert. Wir, die wir nicht auf die Warnung von Hugin und Munin hören wollen.

Wertung: 6 von 8 Rabenflügen

VÖ: 4. Dezember 2020

Spielzeit: 65:30

Line Up:

SIGUR RÓS
Jón Þór Birgisson
Kjartan Sveinsson
Georg Holm
Orri Páll Dýrason
mit
Steindór Andersen
Hilmar Örn Hilmarsson
Páll Guðmundsson
Maria Huld Markan Sigfúsdóttir

Label: Krunk / Warner Classic

SIGUR RÓS „Odins Raven magic“ Tracklist:

1. Prologus
2. Alföður orkar
3. Dvergmál (Official Video bei Youtube)
4. Stendur æva (Official Video bei Youtube)
5. Áss hinn hvíti
6. Hvert stefnir
7. Spár eða spakmál (Official Video bei Youtube)
8. Dagrenning

Mehr im Netz:

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