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DARK TRANQUILLITY: Moment

Es ist noch gar nicht so lange her, als wir einer interessanten Diskussion folgen durften. Es ging dabei um Bands, ihre Schaffensperioden und wie präzise in aller Regel der künstlerische Zenit einer Formation definiert werden kann. Nun ist Musik bekanntlich Geschmackssache und doch schien gerade im Melodic Death Metal die Sache schnell geklärt, so der Tenor zumindest: Bei IN FLAMES war spätestens um die Jahrtausendwende Schluss, während im Fall von AT THE GATES der genredefinierende Klassiker „Slaughter Of The Soul“ (1995) wohl immer unerreicht bleiben wird. Und DARK TRANQUILLITY? Hier kam die Debatte plötzlich ins Stocken, denn die schwedischen Urgesteine sind musikalisch so breit aufgestellt, dass eine Konsensfindung zunächst unmöglich erschien.

„Moment“ macht diesbezüglich keine Ausnahme. Das zwölfte Studioalbum klingt von der ersten Sekunde an unüberhörbar nach DARK TRANQUILLITY, ohne sich jedoch zu wiederholen. Hier und da gibt es Querverweise zu früheren Werken – das gefühlvolle „The Dark Unbroken“ flirtet nicht nur aufgrund des warmen Klargesangs mit der „Projector“-Ära (1999) –, aber gleichzeitig vermählt die Band ihre Selbstzitate mit dem übergreifenden ‚Thema‘ von „Moment“.

“Moment” klingt warm und versöhnlich

Diesem greift das perfekt gewählte Artwork von Ex-Gitarris Niklas Sundin bereits auf clevere Art und Weise vor. Ähnlich wie das visuell düstere „Atoma“ (2016) entfaltet sich eine gewisse Endzeitstimmung. Doch es ist keine Angst, die der fallende Himmelskörper am Horizont auslöst. Vielmehr verspüren wir so etwas wie inneren Frieden – dieser womöglich letzte Augenblick ist wunderschön.

Warm und versöhnlich klingt „Moment“ dann auch in produktionstechnischer Hinsicht. Das passt einerseits gut zur Atmosphäre des gesamten Albums, nimmt den Tracks mancherorts allerdings die Kanten. In seinen wenigen aggressiven Momenten wirkt die Platte etwas sanft und auch wenn Mikael Stanne seine romantisch eingefärbte Singstimme erklingen lässt, hätten wir uns manchmal über ein wenig mehr Schneid gefreut. „Moment“ ist eigentlich gut genug produziert, ohne das Ergebnis durch den Beautify-Filter jagen zu müssen.

DARK TRANQUILLITY fühlen sich noch mehr als zuletzt im Midtempo zu Hause

Das heißt analog nicht, dass DARK TRANQUILLITY ihren Biss verloren haben. Im Gegenteil, „Moment“ ist in vielerlei Hinsicht ein Meisterstück des Melodic Death Metals, das sich kompositorisch auf absoluter Höhe zeigt. Trotz des neuen Gitarrenduos Amott/Reinholdz behalten die Stücke den unverkennbaren DARK TRANQUILLITY-Charakter, der anno 2020 die immer zentraler werdende Symbiose aus Keyboards und Sechssaitern auf das nächste Level hebt.

Songdienlichkeit ist das zentrale Credo, dem sich das Sextett verschrieben hat: In „Identical To None“ verschmelzen die melodieführenden Instrumente über weite Strecken zu einer Einheit, während Drummer Anders Jivarp im Refrain für den entsprechenden Groove sorgt. „Transient“ schlägt in eine ähnliche Kerbe, während es Elemente aus „Construct“ (2013) und „We Are The Void“ (2010) in die Moderne führt. Was sich mit dem starken Auftakt „Phantom Days“ also angekündigt hat, hat Bestand: DARK TRANQUILLITY fühlen sich auf „Moment“ noch mehr als zuletzt im Midtempo zu Hause.

Auf “Moment” agieren DARK TRANQUILLITY von Anfang bis Ende als Einheit

Eintönig wird es allein deshalb nicht, weil die Schweden innerhalb ihrer Komfortzone agieren und dort wirklich alle Extreme ausloten: „Ego Deception“ lässt das aggressive Melodeath-Riffing der Strophe in einen von Synthesizern getragenen Gothic-Refrain münden. Das fantastische „Remain In The Unknown“ startet dagegen mit einem gedankenverlorenen Mikael Stanne, der die Melancholie seiner Singstimme nahtlos in den harschen Refrain transportiert. Es ist überhaupt bemerkenswert, mit welcher Intensität und Klarheit der Frontmann seine Screams auch nach zweieinhalb Dekaden im Geschäft noch zum Besten gibt. Keine Selbstverständlichkeit, wie wir spätestens nach Chris Barnes‘ unsäglichem Geröchel auf „Nightmares Of The Decomposed“ (2020) wissen.

Dass wir dagegen auf einen richtigen Wutausbruch verzichten müssen, passt wiederum zum reflektierten und kontemplativen Ansatz, der „Moment“ zugrunde liegt. Selbst im rifforientierten „A Drawn Out Exit“ oder dem melodieverliebten „Empires Lost To Time“ behalten DARK TRANQUILLITY ihre Fassung. Ob wir das nun Disziplin oder Selbstbeherrschung nennen, ist nebensächlich. Wichtig ist die Konsequenz daraus: Die Schweden agieren von Anfang bis Ende als Einheit, egal ob sie in „Failstate“ düstere Dystopien an die Wand malen oder im melancholischen Gothic Rock-Finale „In Truth Divided“ einen ungewohnt reduzierten Abschluss suchen.

DARK TRANQUILLITY müssen sich nicht mehr neu erfinden –  sie sind ihr eigenes Sub-Genre

Doch selbst ein solcher Track unterstreicht, in welch besonderer Position sich DARK TRANQUILLITY befinden. Die Göteborger müssen sich nicht mehr selbst neu erfinden. Vielmehr haben sie innerhalb des Melodic Death Metals ihre eigene Nische, ihr eigenes Sub-Genre geschaffen. Niemand sonst klingt wie DARK TRANQUILLITY und niemand sonst versteht es, die mannigfaltigen Facetten einer Spielart so variabel und doch so homogen zu etwas Eigenem zu verschmelzen. Das gelingt auch auf dem zwölften Studioalbum in beeindruckender Weise und trägt nebenbei die eingangs erwähnte Diskussion zu Grabe. DARK TRANQUILLITYs Zenit hält mit „Moment“ weiterhin an. Er ist quasi damals wie heute im Jetzt – es steckt ja eigentlich schon im Titel.

Veröffentlichungstermin: 20.11.2020

Spielzeit: 49:58

Line-Up

Mikael Stanne – Vocals
Martin Brandström – Keys, Synth
Chris Amott – Guitar
Johan Reinholdz – Guitar
Anders Iwers – Bass
Anders Jivarp – Drums

Produziert von Martin Brändström und Jens Bogren (Mix und Mastering)

Label: Century Media

Homepage: https://www.darktranquillity.com/
Facebook: https://www.facebook.com/dtofficial

DARK TRANQUILLITY “Moment” Tracklist

  1. Phantom Days (Video bei YouTube)
  2. Transient
  3. Identical To None (Audio bei YouTube)
  4. The Dark Unbroken (Video bei YouTube)
  5. Remain In The Unknown
  6. Standstill
  7. Ego Deception
  8. A Drawn Out Exit
  9. Eyes Of The World
  10. Failstate
  11. Empires Lost To Time
  12. In Truth Divided
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